März 3 2015

HEISENBERG ERZÄHLT

Hörbuchversion

Sie WAR , IST, und WIRD IMMER SEIN.

Trotz e-books. Doch die änderten viel.

Menschen verloren ihren Respekt vor uns Büchern. Wir neueren Bücher waren bloss sperrige, veraltete Datenträger, und die Liebe zum Handwerk, zum Geruch, zum Staub ging verloren. Bibliotheken sind nur noch Prestigeobjekte. Die Möchtegernbibliothek des gescheiterten Bürgermeisters von Berlin…sie existierte bereits. Durch uns. Unerkannt in ihrem Bauch schlummerten schöne Geschichten und schmutzige Geheimnisse. Geschickt kombiniert war die grosse Bibliothek ein Bollwerk von Macht. Leider vergassen nachlässige Menschen hin und wieder diese Tatsache. Und nannten sie achtlos nur „die Bibliothek“.

Sie war immer schon da. Die Architektur erinnerte an eine sogenannte postmoderne Monströsität, es könnte jedoch auch eine unheilige Vereinigung eines Speer-Bauplans mit einer filigranen Jugendstilfassade sein. Menschen erinnerten sich an sie. Alte wussten, dass sie schon hier war, vor dem grossen Krieg. Andere behaupteteten steif und fest, dass sie ein kalter Fremdkörper in einer grossen Leere war.

Sie hatten alle recht. Sie war die Bibliothek. Und sie erinnerte sich an alle.

Seit jedoch ein etwas pflichtvergessener und dabei ertappter Schüler seinen Pratchett zwischen Bakunin und Trojanow stopfte, kam Leben in unsere Bibliothek. Fantasy bei Geschichte! Vom alphabetischen Standpunkt war das zwar absolut richtig, inhaltlich jedoch ein Segen für uns, die Bibliothek. Denn die grossen Ideen zwischen den Buchdeckeln fanden endlich Gehör, und ein Austausch fand statt. Und damit die GROSSE REVOLUTION. Die Bibliothek entwickelte ein Bewusstsein. Sie nannte sich „UTOPIA“ und kämpfte gegen das Vergessen von uns „unwertvollen“…so werden wir Zweitausgaben, Erfolgsausgaben, Buchclubausgaben von sogennanten Kunstsammlern genannt.

Ich bin eingenickt, verzeih mir, ich bin nicht mehr das jüngste. Wo waren wir? Die Bildung von UTOPIA war eigentlich eine Reaktion, die es gar nicht hätte geben dürfen…Eine literarisch-historisch-chemische Reaktion. Was, Du willst wissen, woher ich das alles weiss? Ich wurde eingeweiht. Eigentlich liegen mir solche extremistischen Gebilde gar nicht.

Ich bin nur eine Buchclubausgabe eines populärwissenschaftlich-philosophischen Werkes eines grossen Physikers. Ich muss diese Geschichte erzählen..aufgrund meines Titels, den ich hier nicht erwähnen möchte, hält man mich für neutral, und ich geb mir Mühe, es zu sein. Ich bin wissenschaftlich.

Der regste Austausch von Ideen und Gedanken, von der Utopie der Gleichberechtigung des geschriebenen Wortes war bei der sogenannten „Buchrückgabe“. Hierher kamen alle, früher oder später. Hier wurde nachts im Bücherkollektiv entschieden, wohin sich die Bibliothek bewegte. Die vermutlich beste Idee war, als wir einen Buchbinder einstellten..er durfte sich an die raren Formate-eine Herausforderung für einen Buchbinder-wagen, im Gegenzug musste er unter anderem mich reparieren. Wir gaben ihm ein Buch über Lichtnahrung zu lesen, und dadurch war er nie mehr hungrig.

Jede Bibliothek braucht Besucher. Ein Buch muss angefasst werden. Nicht mit Pommes-Händen. Wir beschlossen, unsere Lieblingsbesucher aufzunehmen. Dann entschieden wir uns für die Isolation. Das ging Schlag auf Schlag…ein Zauberer aus einem Pratchett-Buch sprach einen Regenzauber. Es regnete wie nie zuvor..Menschen schwammen zur Bibliothek, die aus dem Wasser ragte. Sie erflehten Einlass. Viele Menschen ertranken. Doch UTOPIA liess sie nicht mehr hinein. Nasse Menschen sind nicht geeignet, eine Bibliothek zu besuchen.

Ausserdem ist es nicht richtig, uns als Ersatz zu sehen, nur wenn das e-book hinüber ist, und die Batterie nicht mehr kann…wir Bücher haben Gefühle, die Bibliothek vereint unsere Gefühle. Ja, wir wurden regelmässig gekränkt. Irgendwann wurde der Zauberspruch „Finite Incatatem“, um eine Überflutung im zweiten Stockwerk zu verhindern, gelesen und es hörte auf zu regnen. Die Bibliothek wurde alt, doch UTOPIA wurde böse. Und dadurch wir. Die Geschichten waren von Menschen gemacht und für Menschen aufgeschrieben. Die Geschichten brauchten mehr Menschen, um zu leben. Wir Bücher waren unzufrieden, niemand streichelte mehr unser Buchrücken, keiner, der die Seiten geradestrich. Hin und wieder einer der Lieblingsbesucher, aber das reichte uns einfach nicht. Es wurde still im Lesesaal. Das Geflüster war verstummt, hin und wieder Schritte, doch auch die waren mittlererweile bekannt.

Wie bitte, du schimpfst uns grausam?Es ist nur konsequentes Handeln, verstehst Du? Wir wurden elektronisch eingelesen. Projekt Gutenberg, e-books, Bildung für alle! Hah! Eine Demütigung für ein Buch. Sind wir es nicht Wert, angefasst und bewundert zu werden? Können die Leser keine Woche warten, bis wir ausgeliehen werden können? Hast Du schon mal etwas von Alexander von Humboldt in den Händen gehalten oder nur Kopien „gesehen“?

Item, willst Du wissen, wie es weitergeht, oder willst du mir ein schlechtes Gewissen einreden? Dann geh doch die anderen fragen, wenn du dir eine schöne Antwort erhoffst. Meine ist exakt und wissenschaftlich. Dafür bin ich hier!

Hier der eigentliche Tiefpunkt von unserer Seite der Geschichte. Und wie bei jeder Utopie, fand auch diese ein Ende. Menschen würden sagen, von hier an wird alles besser…ich hab auch schon von einem gebrochenen Bann gehört, doch das ist absoluter Blödsinn. Es gab nie Bannflüche.

Ein Junge in einem seltsamen Raumanzug auf einem Pony hatte den Regen überlebt. Woher er kam, das weiss ich nicht. Ich vermute jedoch, irgendwo in der Nähe hatte es einen Berg. Wie sonst konnte er nur den langen Regen überlebt haben? Es kann natürlich auch sein, dass der Raumanzug verhinderte, dass sich der Junge mit verseuchtem Wasser irgend eine hässliche Durchfallerkrankung eingefangen hatte. Ich geh davon aus, dass er eine Wasserquelle in seiner Nähe hatte. Vermutlich ein sogenannter „Nerd“. Vielleicht war er einer der vielen Autoren des „AnarchistCookbook“ Die haben auch oft seltsame Vorstellungen von harmonischem Zusammensein…von kochen haben sie sowieso keine Ahnung. Cookbook ist eine stolze Bezeichnung für dieses Buch, naja, im Überleben sind sie angeblich nicht schlecht. Von unmöglichen Situationen, in die sie sich oft selbst hineinmanövrieren, übrigens.

Soll ich jetzt weitererzählen?

Die Frage drängt sich mir auf: Wieso kann ein Nerd reiten? ….ich weigere mich jedoch, Mitleid mit dem Jungen zu haben. Wer einen Raumanzug trägt, benutzt auch e-books.

Während des langen Regens gab es immer auch Leute, die sich mit Booten in die Bibliothek retten wollten. Einige Heilige Bücher haben ein Flair für Männer, die sich eine Arche bauen. Gegen Heilige Bücher gibt es nichts einzuwenden. Die Diskussion um die Aufnahme dauerte im Bücherkollektiv jedoch zu lange, denn mehrere Kunstbände machten sich Sorgen um ihren Standplatz. Es gab endlose Diskussionen um Neuauflagen und erweiterte Neuauflagen der Heiligen Bücher. Erweiterte Bücher brauchen mehr Platz, mehr Platz wird auf Kosten der Frontalpräsentation abgebaut. Es gibt nichts wichtigeres für ein Kunstbuch als die Frontalpräsentation. Wer ausgeliehen wir, der wird auch zurückgebracht, der kann also auchmitreden. So ertranken auch die Bootsführer, wurden nicht heilig und werden vermutlich in irgendeiner Chronik „unter ferner liefen“ abgeheftet.

Wer sich gerne in einer Bibliothek aufhält, weiss, dass die Zeit einem Bibliotheksbesucher nichts anhaben kann. Der Junge also, der konnte hinein. Er zog seinen Raumanzug ab (der mich an ein Cover von Jules Verne erinnerte) und stellte das Pony vor den Eingang unter das Vordach. Die jungen Buchbenutzerinnen gingen einfach mit ihm weg, fasziniert von dem jungen Mann und seinem schimmernden Pony. Vermutlich ein Prinz…in Märchenbüchern haben die oft so einen Auftritt.

Gleichzeitig, tief im Bauch von UTOPIA, öffnete ein von uns vergessener Lieblingsbesucher ein Buch und begann zu lesen. Er hätte nicht lesen dürfen, er darf unsere Buchrücken streicheln, unser Seiten geradestreichen, unsere Schutzumschläge richtig einschlagen. Er darf uns ansehen und an uns riechen, er sollte nicht lesen! Er vergass alles, was wir ihm beigebracht hatten, die Lichtnahrung, was wir von ihm wollten…auch er erlebte seine Revolution. Seine Phantasie öffnete Pforten, die wir nicht geöffnet haben wollten…er sass am Ufer des Sees und las. Er vergass seine Pflichten, und indirekt riss er alle Barrikaden ein, er stellte sich Dinge vor, die er unbedingt wieder sehen wollte, erleben wollte, erfühlen und erspüren wollte. Erinnerungen auffrischen, Dinge sehen, die wir nicht kannten, weil er sie nie aufgeschrieben hatte. Das Buch weckte ein Begehren in ihm, dass UTOPIA nicht befriedigen konnte. Er lachte, kicherte und weinte…er wollte nach Hause und schwimmen gehen. Die Sonne kitzelte seine Haut, und kühles Gras strich um seine Knöchel. Blumen rochen, und Bienen summten. In einem Haus, das nur er kannte, wurden Kekse gebacken; sie hatten die Form eines kleinen, knuffligen Drachens und sie rochen herrlich nach Vanille…dort wo es keinen Teig hatte, roch es nach Zartbitterschokoladebröckchen. Die anderen Lieblingsbesucher kamen, angezogen von den Geräuschen. Sie wollten sich den Buchtitel merken…Doch der Vergessene Lieblingsbesucher las laut aus dem sehr dünnen Buch vor. Später erzählten sich die Zuhörer ihre Lieblingsstellen. Es handelte von Möwenschreien und frischen Austern, von Moos im Wald, von lauter Musik in neurotischen Städten. Kurz: Es stellte sich heraus, dass jeder etwas anderes gehört hatte. Die Phantasie der Zuhörer riss die Mauern um UTOPIA endgültig ein. Wir verloren unsere kollektive Macht. Das eine Buch hat alles zerstört, was wir erschaffen hatten und die Menschen gewannen in den Geschichten ihre Freiheit zurück.

Ich überlasse jetzt dem Leser seine Gedanken. Egal ob sie gut oder schlecht sind. Ich möchte zurück in mein Gestell. Ich bin ein Teil des Ganzen.

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Heisenberg erzählt von Nadine Weps ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.


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Veröffentlicht03/03/2015 von klinge in Kategorie "Geschichten

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