Die knirschende Zahnräder der Rechtschaffenheit
Einer der schönsten und befreiendsten Aspekte meines Berufes ist der, dass ich nicht verurteilen soll. Das kann ich auch nicht. Und vor allem will ich das auch nicht. Ich befasse mich aber in letzter Zeit immer wieder mit Rechtschaffenheit.
Unter den erlebbaren Gefühlen ist die Rechtschaffenheit die Ente oder Gans mit dem zufrieden wackelnden Bürzel. Derjenige, der rechtschaffen ist, ist in der Regel sehr zufrieden mit sich selbst und seinem Tun. Diese Zufriedenheit mit dem Tun ist eingebettet in sein persönliches Wertesystem.
Hier beginnt es bereits, schwierig zu werden. Was ist das persönliche Wertesystem? Wodurch wird es beeinflusst? Was ist wichtig im Leben dieses Menschen, und woran zerbricht er? Ist er bereits zerbrochen, und das Wertesystem, an dem sich dieser Mensch, der da sitzt, zu orientieren versucht, ebenfalls kaputt? Ist es intakt, und passt einfach nicht an unsere Gesellschaft? Wird es immer wieder von der Gesellschaft verletzt? Oder nur von „seiner“ Gesellschaft? Wenn Menschen nicht mehr zufrieden sind mit sich und der Welt, helfen sie auf die eine oder andere Weise nach, viele landen letztendlich freiwillig oder nur ein bisschen unfreiwillig auf der Couch des Therapeuten.
Ich stehe dann vor dem Problem, zum Beispiel einem gewalttätigen Menschen gegenüber zu sitzen, der mir anhand seines Wertesystems mehr oder weniger gut erklären kann, warum das richtig ist, in gewissen Situationen Gewalt auszuüben. Das kann ein Straftäter sein, das kann auch ein Polizist sein, oder ein Soldat. Alles Fachkräfte für Gewaltanwendungen, und gemeinsam ist ihnen, dass, falls sie alt sind, gut sind in ihrem Beruf. Und verblüffenderweise haben sie eine ähnliche Vorstellung von Werten, wobei sich Polizisten und Verbrecher ähnlicher sind als Soldaten und Polizisten.
Soldaten sind oftmals junge Menschen, die keinen Ausbildungsplatz bekommen hatten, und „ihrem Land was zurückgeben wollten“, so der Tenor. Sie absolvieren ihre Ausbildung beim Bund und vertrauen darauf, dass die amtierenden Politiker ihren Job so gut machen, dass der aktuelle Frieden erhalten bleibt. Das ganze wird gerahmt von burschikoser, rechtschaffener und bewaffneter Maskulinität. Man lernt im Bund, das es Pflichten gibt, Heimat gibt, Loyalität und Ehre. Damit wird der junge Mensch an seine Einheit gefesselt. In Extremo könnten ihn Heimat und Pflicht am Arsch lecken, Loyalität und Ehre jedoch bleiben wichtig. Dafür kann man auch mal an der Front sterben, weil man loyal bleibt, Mann von Ehre. Man(n) vergisst jedoch gerne, als Soldat, dass man in der Zeit die Loyalität an die Familie verraten hat. Und wenn man dann traumatisiert wieder zurück in der Heimat ist, merkt man, dass auch Familie Heimat ist. Spätestens dann beginnt unser Soldat a.D., aktiv etwas Betäubendes einzunehmen. Gegen die Erinnerung und gegen den Schmerz. Damit kann ich gut arbeiten. Ist nicht so der Kopfstand, zu verstehen, wie er sich fühlen muss, und das alles, woran man glaubte, plötzlich in Frage steht.
Etwas schwieriger zu verstehen sind für mich die Gewaltverbrecher. Damit meine ich jetzt weniger die kühl planenden Psychopathen (sowas hatten wir nur in der Vorlesung) , sondern die Grobiane, die es auch braucht, um den Standpunkt der eigenen Gruppe zu verdeutlichen. Sie haben oftmals eine sehr kindliche Vorstellung von „gut“. Auch hier ist Loyalität und Familie enorm wichtig. Witzigerweise auch Ehre. Wobei da auch unterschieden werden muss. Es gibt Mütter (die haben Ehre) und es gibt junge Frauen, wobei letztere ganz schnell in eine Kategorie fallen können, ohne ihr eigenes zutun, die ich hier nicht aufschreiben möchte. Es gibt Kumpel/Freunde, die haben bedingungslose Loyalität verdient, und dafür tun sie einfach alles. Als Therapeutin stellt man staunend fest, dass man soviel Loyalität noch nie gesehen hat. Hat jemand gegen den privaten Moralkodex oder den Gruppenkodex verstossen, unwissentlich, gibt es ne Warnung. Die ist mündlich und sehr subtil. Muss aber der Fairness halber ausgesprochen werden. Sollte sich der Fehltritt wiederholen, endet das meistens wieder in einem Gewaltverbrechen, wobei es bei unbewaffneten oder wehrloseren Opfern eher „nur mal aufs Maul“ gegeben wird, so dass sich sowas auch garantiert nicht mehr wiederholt. So in ungefähr der Moralkodex und die sich daraus ergebende Rechtschaffenheit, wenn es wie gewünscht läuft. Dieses Denken ist sehr linear, und man kann es in Zusammenhang mit der frühen Biographie des Patienten gut nachvollziehen.
Die kompliziertesten Patienten für mich zu verstehen sind die Polizei, das gebe ich unumwunden zu, und sollte das ein Polizist jemals lesen – ich will niemandem auf die Füsse treten, das sind meine Beobachtungen. Es beginnt schon mal damit, dass ein Polizist (im Gegensatz zu Nichtpolizisten) die Möglichkeit hat, legal Gewalt gegen andere auszuüben. Auch Polizisten sind loyal, ihre Loyalität gilt ihrer Einheit, aber da kann es auch Ausnahmen geben, letztendlich mag man nie alle eines Teams, und dem Staat. Sie schaffen es aber, in einem Störfaktor gegen die öffentliche Ordnung einen menschlichen Feind und nicht einen sehr kleiner Teil des Staates zu sehen. Sie verteidigen ein abstraktes, ideales Gebilde. Das können sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen, allerdings ohne die Angst des Soldaten und ohne die absolute Verpflichtung einer menschlichen Gruppe gegenüber, wie sie Gewaltverbrecher der Kategorie „Gruppengrobian“ haben. Sie sind Rechtschaffen ohne Rücksicht auf Verluste. Ansonsten sind sie nicht viel anders als wir Nichtpolizisten. Meint man, und die Rechtschaffenheit drückt sich auch in der Zufriedenheit mit dem gemachten Job aus. Und an dieser Stelle kann es gut argumentierbar missbräuchlich werden. Und das dann zu verstehen, nachzuvollziehen und „mich verwickeln zu lassen“ ist für mich dann oftmals eher schwierig.

