März 27 2023

Die Geschichte des Kreislaufs von Haschisch oder einfach nur: Entsetzen!

Ich schwöre, alles wahr! Mensch kann sich das gar nicht ausdenken. Dafür reicht meine Phantasie nicht aus. Ich muss anonymsieren, um meinem Arbeitsvertrag gerecht zu werden. Daher werde ich die Jugendlichen mit A, B, C etcetera in der Reihenfolge ihres Auftretens bezeichnen, um den Interessierten das Lesen zu erleichtern.
A durfte über das Wochenende bei seinen Pflegeeltern sein. Das machte mich froh und glücklich, denn A hat keinen guten Einfluss auf andere Jugendliche, hier B, C, und D. Meine Fachmeinung zu A ist: ich halte A für extremst idiotisch. A hält sich selbst für einen supa gefährlichen Gangsta. Mein Chef hält A für ein Pubertier. In As Abwesenheit schrie sein Wecker um Aufmerksamkeit. Ich war mit meinem neuen Kollegen auf dem Gang und dachte, um die Nerven der anderen Jugendlichen zu schonen, schalte ich den Wecker aus, auch wenn A noch bei seinen Eltern ist. Mir ist die Privatsphäre der Kiddies heilig, und ich hatte einen Kollegen dabei, der schlimmstenfalls bezeugen kann, dass ich bloss den Wecker ausgeschaltet hab. Ich öffnete die Tür. A hatte innerhalb seines Zimmers die Tür zum Klo offengelassen, so dass man die zugekackte Schüssel, die kaputte Wartungskachel der Dusche mitsamt der ungeschickt versteckten Packung getrockneter Kräuter in der Dusche sehen konnte. Ich schaltete den Wecker aus und fotografierte die defekte Dusche. Mein Kollege hat gespült, eine heroische Tat, für die ich äusserst dankbar bin, und zu der ich in dem im Moment nicht fähig war. Mein Chef hat dann die Fotos gesehen, und hat eine „Ansage“ geplant, auch in Anwesenheit des alten Herrn von A. A hat mehrere eher teure Hobbies, und ist sich ein Lebensstandart gewohnt, der ein Jugendamt nun einfach nicht bieten kann. Ausserdem ist er ja auch ein „Gangsta“, und damit schon sehr gefährlich, nicht zu vergessen. Es deutete alles auf Verkauf von Cannabis hin. Nur – es roch eindeutig nach Oregano. Nebst den Exkrementen in der Schüssel, die auch schon mehrere Tag vor sich hinmüffelten, war die Oreganonote eindeutig. Auch fanden wir Haare, die als mögliche Zutat für die mögliche morphologische Strukturen von den nachzubildenden halluzinogenen Naturprodukten hinwiesen. Es war unglaubliche widerlich.

A trifft mit Vater und Oma ein. Der Vater schämt sich, Oma putzt weg. A verschwindet zwischenzeitlich.

Meine Theorie war, dass er aus der (gewässerten) Scheisse, Oregano und Haaren „potentes“ Gras knetet und verkauft. Mein Chef war unnachgiebig: An welchen Deppen er dann verkaufen will? Kleine Kinder, die auch mal Zigaretten kaufen wollen? Neinnein, kann nicht sein. So blöd ist niemand. Mein anderer Kollege, der unsere Kiddies schon länger kennt, meint, dass so ne Qualitätsprüfung üblicherweise auf der Strasse nicht stattfindet. Und ja, kann schon sein, dass er genau das tut. An dieser Stelle tritt B und und E auf. E wird gerade bedroht, B will unbedingt mit E „an die frische Luft“. Das heisst in diesem Fall: Sie wollen sich irgendwelche legalen oder illegalen Drogen kaufen. B ist Cannabiskunde, gerne, viel, ja. E hat zuviel Schiss und steht unter Druck. B rennt raus, trifft den Dealer. Ich kann nichts tun, und kanns auch nicht ändern. 

Dass A der Dealer ist, sehe ich erst, als A mit B zusammen eintrifft. A strahlt zufrieden, B grinst in sich hinein. Die doofen Betreuer ausgetrickst, wieder mal.

Warum meine Theorie stimmt? Das Scheisscannabis (die Wortwahl drängte sich mir auf, Verzeihung) hat nicht gewirkt.

Februar 20 2023

Warum?

Der Titel ist etwas irreführend. Meine Tochter und ich betrachteten heute nachmittag Bilder aus der Reihe Bastei Galerie der grossen Maler. Für 4 DM der Band, herausgegeben 1964. Unter anderem habe ich da Bilder von Segantini, aber auch Menzel. Das alles liegt bei mir, weil der Postbote aus der Schweiz die nicht mehr haben wollte, aber wegwerfen wollte er sie auch nicht, die waren nämlich noch von seiner Mutter selig! Und bei mir wusste er, ich würde diese Bändchen nehmen, sie aber nicht schänden. Wenn der Arme wüsste!

Meine Tochter brauchte in ihrer Studi-WG Bilder, und die schienen ihr ideal zu sein. Also fragte sie mich, ob sie die mitnehmen kann und aufhängen. Die Bindung geht kaputt, ja, aber eigentlich sind diese Heftchen doch gemacht, um sie aufzuhängen, oder nicht? Also bejahte ich. Und ich wurde überrascht. Denn die Bilder, die mir nicht sonderlich gefallen, weil sie mir zu braun sind, die gefallen ihr. Und die Bilder, die mir gefallen, oder die mich inspirieren, mit denen kann sie nichts anfangen.

So das Bild der Göttin der Liebe von Segantini. Sie fragte mich, warum? sie so da hängt. Hier meine Antwort, Tochter, meine Geschichte an Dich:

WARUM?

„Ach Honey, warum mussten wir unsere Hochzeitsreise in die Alpen reisen? Diese beschwerliche Fahrt auf diesen felsigen Wegen. Die Sutherlands sind mit dem Zug, stell Dir vor! Bis nach Bengalen gefahren. Sie hatten einen eigenen Waggon, und obwohl Lady Sutherland unpässlich war, konnte man doch einen gewissen Komfort und Standard halten! Ein Minimum an Personal war je-der-zeit gewährleistet! Der eigene Koch war immer dabei. Und Honey, guck dir diese Landschaft an. Steine, Kühe und Bäume, in verschiedenen Kombinationen. Ich verstehe wirklich nicht, warum alle in die Alpen fahren!“

„Aber Darling, ich muss doch auch etwas an meine Stellung in Kings College denken! Es soll hier ein Künstler geben, der sehr engagiert malt. Nicht nur Kühe, wenn auch welche in seinen Gemälden auftauchen sollten, wie ich einräumen muss. Doch seine Gemälde strahlen nur von Sonnenlicht, Du wirst sehen, Darling, und ich bin sicher, sie werden dir gefallen. Ausserdem konnten wir so 5 Wochen länger gemeinsame Zeit buchen, der Sommer soll sehr schön sein in den Alpen. Du hast nun mal unter Deinem Stand geheiratet, ich dachte, das sei dir klar! Übrigens, sie mal, dieses Hotel da vorne, ganz nach den neuesten Komfort gebaut und eingerichtet, sollte auch den Standards der britischen Kronfolger genügen.“

„Nun, ja, ich mache Abstriche, Honey, aber du weisst ja, von meinem Geblüt sind die Nachkommen dünn gesäht und haben oft Überbiss, die Armen. Wenigstens den habe ich mir mit dieser Hochzeit erspart. Oh, Honey, die Kutsche wird langsamer, wir scheinen tatsächlich anzukommen! Ach, ich muss nach etwas Kölnisch Wasser verlangen, um mich frischzumachen! Warum betonst Du so Deine Stellung im Kings College? Werden wir noch etwas Kunst zu sehen bekommen? Oh, wie ich die alten Meister liebe. Du weisst, wie ich sie liebe!“

Die Kutsche ruckelte etwas langsamer, und die Pferde kamen zum stehen. Der Master lehnte sein Gesicht nach draussen und gab Anweisungen: „Bitte fahren sie direkt vor den Eingang, Mylady ist erschöpft! Wir haben nicht vor, nach dieser grauenhaften Reise auch noch zu wandern!“ Der Kutscher, ein grober Mann, geboren auf der Scholle des Landes, spuckte auf den Boden und rief etwas sehr kehliges, worauf die Kutsche nochmals zu ruckeln begann. Nach wenigen Metern stand sie abermals, und kleine Jungen in dunkelroten Uniformen mit goldenen Borten und Initialen des Hotels entluden die mit Koffern und Hutschachteln beladene Kutsche.

Der Mann betrachtete seine junge Frau, und lächelte: „Eine Überraschung, meine Liebe. Dieses Hotel hat keine Kosten und Mühen gescheut, und Stuckdecken in der Haupthalle einbringen lassen, so wie in den französischen Schlössern, und die Hoteldecke, da ist eine wunderschön leuchtende Göttin der Liebe angebracht worden. Du wirst begeistert sein! Ich werde in meiner Funktion als Kunstdozent des Kings College einerseits eine Stellungsnahme über den Wert des Gemäldes, das ich noch nicht kenne, abgeben, und andererseits mich informieren und den britischen Kunst- und Kulturwissenschaftlern eine neue Sicht über die Kunst des Kontinents überbringen. Ich freue mich unglaublich auf das Gemälde. Es ist noch nicht lange angebracht, und es soll absolut überwältigend sein! Oh, ich bin absolut aufgeregt!“

„Nein, Honey, du willst arbeiten? Nur weil du eine Stellung an einer königlichen Schule innehast, bedeutet das noch lange nicht, dass du auch arbeiten musst, Honey, war dir das nicht klar, als dir Onkel Albert die Stellung zutrug? Und Stuckatur im Stile der franzöisischen Schlösser, weisst Du, ich mag keine Lilien, Honey, und französische Schlösser sind so….frivol, findest Du nicht auch? Überall hat es Seidentapeten und Satinsofas, wo weiss der Herr alles passieren kann. Aber keine anständigen Kamine, um die herum auch mal ein richtiges fröhliches Fest gefeiert werden kann. Aber nun denn, Du bist die Verpflichtung eingegangen, wie ein richtiger Ehrenmann, dann sehen wir uns diese Liebesgöttin an. Aber in Zukunft machen wir im Urlaub auch Ferien, ja, Honey?!“

Der Kies knirschte unter ihren Schritten, und als der Portier die Türe öffnete und die beiden einliess, prallte die Lady gegen ihren Gatten, der abrupt stehenblieb und die Decke anstarrte.

„Honey, was hast Du was ist denn das??!

Vom Empfang kam ein Mann, der sich die Hände rieb und ihnen entgegeneilte:

„Lord und Lady Chatterley? Willkommen im Hotel des Alpes! Wie ich sehe, ist der Lord Chatterley ein Mann von Kunstverständnis! Ein bekannter hiesiger Maler hat uns eine wunderbare Liebesgöttin geschenkt. Wie war die Reise?“

Lady Chatterley richtete sich auf, ihre Nüstern bebten vor Entrüstung.

„Nun, denn! Meine Familie errichtete das britische Empire. Wir bekämpften die Hottentotten, und wir erfanden die Dampfmaschine, wir finanzierten grosse und kleine Geniestreiche. Wir eroberten Weltreiche! Wir hinterliessen unsere Fussstapfen in der Geschichte. Und sie erlauben sich, dieses laszive, blasse Wesen mit lachhaft vielen Haaren und lachhaft heller Haut als eine Göttin der Liebe zu bezeichnen, nur weil sie lachhaft dünnen roten Stoff um die Hüfte und um die Schenkel trägt? Ich dachte, bei einem Hotel dieser Preisklasse wäre etwas mehr Stoff um die Hüften schicklicher, mein Herr! Aber die Reise war schrecklich, und ich sehe, sie ist an Schrecklichem nicht mehr zu überbieten! Wir sind ganz offensichtlich angekommen! Darling, lass uns gehen! Darling?“

„Honey, ich bitte Dich. Es handelt sich um eine wunderbare Darstellung! Die weisse Haut symbolisiert doch nur die Reinheit! Auch göttliche Liebe ist Liebe, aber sie ist rein! Nichts was nicht auch ein Michelangelo zeigen würde, wird gesehen. Das Haar, die Schaumkronen auf den Wellen, all das zeigt ein Füllhorn an Möglichkeiten. Ihr Blick ist verträumt, nach innen gerichtet, vielleicht denkt sie an ihren Liebsten. Ein wunderbares Gemälde.“

„Wilforth, ich kann mir denken, was dir daran gefällt! Aber einer Frau, und einer Frau von Adel noch weniger, kann dieses Bild nicht gefallen! Es ist vulgär. Vermutlich spricht es deswegen zu Dir! Deine Familie ist auch vulgär!!“

„Honey, sie ist schön. Sie hat schöne Haare, weisse Haut, und weiche, runde Brüste. Sie ist auch mal ruhig, und, das Beste dran, sie hat keinen Überbiss!“

 

 

Februar 8 2023

Etwas Fluffiges #1, Zugfahren in Schleswig-Holstein

Wenn man sich in Städten in Schleswig-Holstein aufhält, fällt einem (als Zugfahrer)visuell nichts besonderes auf. Kiel und Flensburg haben nichts, von dem man sagen würde, wenn man aus dem Zug steigt – wOOOOOOOOW! guck Dir DAS an. Aber, Kiel und Flensburg klingen anders als Berlin oder Hamburg. Sie haben Schiffe, die sehr tief tuten, und sie haben Möwen, die Schreien, und sie haben Krähen. Man könnte jetzt behaupten, dass es in Hamburg sicher auch Schiffe hat, die sehr tief tuten. Ja, stimmt, aber die höre ich nicht im Hauptbahnhof oder in Altona. Kiel und Flensburg klingen nach Kiel oder Flensburg. Das ist mir bis jetzt noch nie bei einer Stadt aufgefallen, und ich muss noch rausfinden, was es nach Kiel oder Flensburg klingen macht. Es gibt tatsächlich auch noch eine Gewichtung, die „Kiel“ oder „Flensburg“ ausmacht. Ob man das über das Gehör oder über andere Sinne wahrnimmt, weiss ich auch noch nicht genau, versuche ich aber noch rauszubekommen. Jetzt habe ich mich etwas verloren…tut mir leid.

Wie auch immer, wenn man in den Zug steigt, in Kiel, da gibt es sogar Werbung auf dem Gleis 6a, da fährt man unweigerlich an die Ostsee, und die Ostseebäder machen auf dem Gleis, und nicht etwa auf der Wand daneben, Werbung. Das fand ich bemerkenswert. Kiel weiss, wie man Touristenströme erfolgreich umleiten kann…gut, ich steige also in den Zug nach Eckernförde. Nicht, weil ich das will und weil ich Tourist bin, sondern weil, ihr ahnt es sicher, irgendetwas umgebaut wird, oder zusammengebrochen, weil eingerissen. Reisen mit der Deutschen Bahn. Vielleicht ist auch eine Brücke hinüber. Man will es gar nicht so genau wissen. Und wenn ich nach Husum (Westküste) fahren will, mache ich doch gerne einen Umweg über Eckernförde (Ostküste, aber immerhin doch schon ungefähr selber Breitengrad wie Husum).

Wir fahren los, mit der Regionalbahn. Kiels Norden ist hässlich. Tut mir leid, das zu schreiben, aber mir kommt sonst nichts passendes in den Sinn, ich lasse mich jedoch gerne vom Gegenteil überzeugen. Die Kiel-XY-Haltestellen haben keinen erkennbaren Dorf-/Viertel-/Kiezkern, sondern sind einfach nur unverschleiert ärmlich. Oder, wie die Trashautorin und Ex-Kollegin vermutlich schreiben würde, wurde grobmotorisch industrialisiert. Irgendwann kommt der Nord-Ostseekanal. Es folgt für das erschöpfte, geschundene Auge ein liebliches, sehr ländliches Dorf, wo unser Zug jedoch nicht hält, und dann folgt ein weiteres Dorf, wo der Zug dann doch noch stehenbleibt. Es steigen wenig Leute ein, und einige aus. Wir fahren weiter, und es folgt dann irgendwann Eckernförde. Da muss ich auf den Bus, weil wegen meiner Umleitung. Mich überrascht Eckernförde, es wirkt auf mich wie ein schottisches Fischerdorf – die strohgedecketen Bauernhäuser mussten zugunsten steinverkrusteten, trutzigen Fassaden, die dem Meer trotzen, ojah, das tun sie! weichen. Ich räume ein, dass es geregnet hat, aus allen Löchern, und es vermutlich auch ich Eckernförde strohgedeckte Häuser hat. Dennoch war das eine sehr starke Aura, wenn man das so schreiben kann, die ich wahrgenommen habe, während ich in den wartenden Ersatzbus gerannt bin.

Der längste Abschnitt meiner Zugreise ist bezeichnenderweise mit dem Ersatzbus, über die sanften Hügel der Gegend um die Ostsee.

Wir erreichen rechtzeitig den Anschlusszug in Schleswig. Krass, nicht wahr?

 

 

Dezember 1 2022

Der Baum

Es ist wieder soweit. Weihnachten wirft seine langen Schatten voraus. Der Tag, an dem folgendes mehr oder weniger passierte (ich fabuliere manchmal was weg oder dazu), ist noch im November. Meine Tage auf Arbeit sind nicht sonderlich stressig, wir räumen um, auf und weg, daher habe ich auch 4 Ikea-grosse Tüten mit Weihnachtsschmuck im Keller gefunden. Ich arbeite in der Jugendhilfe. Gut 50% der Jugendlichen sind minderjährige Jugendliche aus verschiedenen Teilen Asiens und Afrikas, grösstenteils muslimisch. Sie sind allesamt sehr höflich, sehr hilfsbereit, sehr nett und aufmerksam. Die Tatsache, dass ich eine Frau bin, schmälert mein Ansehen nicht, im Gegenteil. Ich bin die Hausmutti. Die anderen 50% sind Jugendliche, die das Pech hatten, bei Eltern zur Welt zu kommen, die ihr Kind nicht lieben konnten. Sie wurden weggegeben, wuchsen auf der Strasse auf, manchmal mit, manchmal ohne Eltern, wuchsen irgendwie bei den Eltern auf…alles in Eurer Nachbarschaft. Irgendwann merkte das Jugendamt, das was nicht stimmt, und dann kommen sie zu uns. Diese Kinder sind in einem CDU-regierten Deutschland aufgewachsen, wissen zumindest in der Theorie, was Weihnachten bedeutet. Das die Vorgeschichte und Erklärung zu der Geschichte. Diese Kinder sind zwischen 17 und 21 Jahre alt, die Verlängerung bis 21 sollte helfen, die Schule zu beenden und eine Ausbildung zu machen.

Gestern ging ich wieder mal arbeiten, (auch ich hab mal Wochenende) und dann stand da „seit gestern“ eine 3,5 Meter grosse Nordmanntanne in unserem Esssaal. Die Spitze war etwas umgeknickt, und sie lehnte in der Ecke. Der Fuss, der für Weihnachtsbäume vorgesehen ist, stand klein und unbedeutend neben der Tanne. Meine beiden Kolleginnen, beide sehr engagiert, wollten „mit den Kindern“ den Baum schmücken, und sie hätten doch viel zu wenig Schmuck..sie waren so aufgeregt über diese grosse, tolle, wunderbare Aufgabe, dass ich mich erinnert fühlte an meine eigenen Weihnachten, die ich erleben durfte. Ich war etwas überrascht. Immerhin sind diese Frauen erwachsen. Und, „Kinder“! Ja, es sind Kinder, aber sie sind nicht mehr kindlich. Ich ging in den Keller und suchte den Schmuck zusammen. 4 Tüten!! Ich ging in das Esszimmer mit dem Schmuck und sah unsere Nichteuropäischen Jungs, wie sie WM guckten. Sie betrachteten mich, wie ich den Schmuck ablud, und, je nach Temperament, begannen sie zu fragen oder zu kichern. Nun, bei Licht betrachtet, ist dieses Tannenbaummonstrum ziemlich absurd. Und 3,5 Meter für unseren Raum definitiv zu gross – wenn man auch noch bedenkt, dass jeder von ihnen genau ein Geschenk bekommt, im Wert von 20 Euro (das sind dann ungefähr 15 Geschenke). Mir wurde in verschiedenen Sprachen angeboten, eine Säge zu suchen, zu holen, den Baum kleiner zu machen. Niemand kam auf die Idee, Glitterkram befestigen zu wollen. Ich schlug ihnen Vor, mit den Kolleginnen Glitterkram dranzuhängen und Kunstschnee draufzukleben. Die religöseren dankten, und zogen sich zurück. Die weniger Religiösen wollten dann doch lieber WM gucken. Ich suchte meine Kolleginnen, deren Aufmerksamkeit sich zwischenzeitlich auf einer bürokratischen Tätigkeit verkrustete. Ich wartete. Und wartete. Irgendwann sagte mir die superreligiöse, superchristliche Kollegin, ich würde nicht den richtigen Geist, die richtige Atmosphäre verstrahlen, und sie bräuchte schöne Weihnachtsmusik. Ich entgegnete, dass noch November sei. Und dass ich speziell poppige Weihnachtslieder, wie sie zum Beispiel Wham! produzierte, hasse. Dazu singe ich Last Chrismas sehr schnell mit irre drehenden Augen und wippendem Kopf. Man betrachtete mich ungläubig. In meinem Fleische wohnt definitiv nichts Gutes, das war in dem Moment auch sofort allen Anwesenden klar. Hab ich dann auch gesagt. Dieses Pauluszitat wurde nicht erkannt. Wieder ein Witz in die Binsen.
Die beiden amüsierten sich dann weiter mit der Bürokratie (wieviel Ferien steht jemandem zu, der innerhalb der Probezeit Ferien nehmen muss, weil die Tage sonst verfallen und kann man grad für das ganze Jahr Ferien nehmen?). Der Schmuck liegt beim Baum, auf dem Tisch. Die Kinder wissen nicht, was das soll.
Die Kinder die geliebt werden, von Müttern, die nicht wollen, dass die Taliban sie zu Mördern macht, sind keine Christen, und, btw. Kabul zum Beispiel, liegt oberhalb der Baumgrenze. In Afrika wachsen keine Nordmanntannen.
Die Deutschen, die Wissen, dass man was bekommen sollte, bekommen nichts von ihren Eltern.
Und ich, ich bin nicht in der richtigen Stimmung zum Baumschmücken, mit oder ohne Weihnachtspop.

Oktober 8 2022

„Experten“

Wir kennen das Phänomen. Unsere früheste Begegnung mit dem „Experten“ ist Papi, wie er über sein neuestes Auto fachsimpelt. Oder über Fussball. Wir hören fasziniert zu, wie er über englische Öl- oder Benzinpumpen referiert, die bei der Ausfahrt in das viel zu heisse Italien mit einem nassen Waschlappen gekühlt werden müssen. Oder wie Mönchsgrasmücke an Kormoran vorbei über die Flanke die Ecke über den Kopfball zielgenau auf die Latte in den Schuss getroffen hat. Wir hören zu und verzeihen unseren Vätern oder Brüdern, dass sie ein extrem langweiliges Hobby haben, weil sie gut erzählen. Ein weiteres typisches Anzeichen des „Experten“ liess sich gut in der Schule beobachten: Wenn Lautstärke nicht ausreichte, um auszudiskutieren, ob jetzt Deutschland oder Italien die WM gewinnt, half immer eine Schlägerei. Nachher war klar, wer gewinnen würde. Oder ob Ferrari oder Lamborghini toller waren. (Meine Argumentation, Lamborghini sei doch bloss eine Traktorenmarke, und für Bauern hergestellt, artete seltsamerweise auch immer in eine Schlägerei aus, obwohl ich doch n echtes Argument hatte). Irgendwer kam dann auf die gloriose Idee, die „Experten“ zu vereinen, und erfand das Internet. Ich räume an dieser Stelle ein, dass das vermutlich sogar Experten ohne „“ waren. Verblüffenderweise zählt auch hier die Lautstärke, und die Schlägerei wird mit „don’t feed the troll“ beendet. Wir mutieren von Experten für irgendwas zu „Experten“ für Corona, die Ukrainekrise, die Klimakrise, wir wissen alles über Virobazillofungizide, über Krebsaids und die zuverlässige Behandlung dieser Krankheiten. Meistens hilft eine ordentliche Hühnersuppe, genügend Bewegung und Misteltee, alles andere ist nur im Interesse der Pharmafirmen und nicht fundiert. Wir wissen alles über Politik und was Richtig und was Falsch ist. Und wehe, unser Knoffhoff wird angezweifelt – dann wird es für das restliche Netz Zeit, Popcorn zu braten. Denn die Kontrahenten steigen in den virtuellen Ring, krempeln die Ärmel hoch, und dann geht es rund, bis einer heult.

Mehr schreibe ich nicht, weil ich ja nicht die Moralkeule schwingen will…..

 

August 12 2022

Resümee

Nicht dass ihr mich jetzt falsch versteht – hier kommt nichts Sinnreiches.

Ich bin faul. Ich turne nicht gerne. Wer aber ein Kind hat, der muss ins MuKi oder, viel moderner, Eltern-Kind-Turnen. Ich hab das vor gefühlt 100 Jahren getan, um diese berühmt-berüchtigten Kontakte zu knüpfen, und um mein Kind mit anderen Kindern spielen zu sehen. Wir waren 4 Muttis. 3 Muttis hatten für ihr Kind ihre Karriere als Supermodel aufgegeben, und der Kugelpunk. Die Models hatten Söhne, ich hab ne Tochter. Wir turnten. Ich hatte einen roten Kopf. Die Models hatten Eleganz. Ich habe es gehasst. Und dann hatte eine davon eine Idee – spielerisch! Sie kaufte eine von diesen Ausziehrohren aus Papier in der IKEA, schön bunt. Die Mamis krochen mit ihrer Brut da durch, und das schnellste Team gewann. Es war mein persönliches Vietnam. Ich blieb da drin irgendwie stecken, und kochte vor Zorn, die Models kicherten und halfen. Ich begann an diesem Tag zu verstehen, warum man Ohren abschnitt und aufhängen muss.

Irgendwann hatten wir auch dieses (Larven)stadium erfolgreich hinter uns gelassen, und meine Tochter ging in die Spielgruppe, die Vorform des Kindergartens. Die Ausdrücke wurden etwas derber, die Landjugend hatte teilweise ältere Geschwister, und dann drehte sich ein Streit zwischen mir und meiner Töchtin darum, ob sie nach dem Sandmännchen auf KiKa noch wachbleiben sollte oder nicht. Ich fand nicht, schliesslich war das der Deal am TV gucken. Sie fand schon. Sie hatte an diesem Tag Spielgruppe und war müde, aber wollte umsverrecken nicht ins Bett. Sie betitelte mich mit einem extrem schlimmen Schimpfwort, und sah mich gespannt an. Ich war baff. Dann atmete ich durch, und fragte sie sehr ruhig, ob sie denn eigentlich genau wisse, was das bedeute, was sie da eben gesagt habe? Sie wurde unruhig, und murmelte dann, das sie eine Vermutung habe. Diese Vermutung erwies sich als falsch. Ich liess sie jedoch im Ungewissen und sagte nur, dass ich das nie wieder hören wolle. Das hat geklappt.

In der Unterstufe hatte sie einen Freund, der mit ihr gelegentlich spielte. Irgendwann beschlossen die beiden, zu heiraten, und fragten mich, ob das für mich in Ordnung sei. Ich meinte: „Wenn ihr Euch ganz sicher seid, dann ist heiraten ne tolle Idee.“ Kurz darauf hatten Sie Streit. Ich hörte meine Tochter sagen: „Wenn du mir nicht so-ffffort meine Polly Pockets gibst, wird das nichts mit heiraten!“. Ich mischte mich nicht ein.

Irgendwann zogen wir nach Berlin um. Die Landjugendumgebung wurde eingetauscht gegen ein aufregende, aber gelegentlich für alle Beteiligten anstrengende Stadt. Die Einschulung bestand aus Zeugnisnoten umrechnen, was ein Amt tut, und von der Schulsekretärin verordnete Gang zum Schularzt, der unsere Tochter entlausen sollte, und impfen, weil sie aus dem Süden kommt. Der arme Kerl starb beinahe vor Scham, als er den Brief gelesen hatte. Nach einem halben Jahr musste sie die Schule wieder wechseln. Es war  eine neue Schule mit sehr vielen neuen Freunden und Freundinnen, und ein paar alten, verbliebenen Freunden, die ebenfalls an die neue Schule wechselten.

Einmal hatte die Tochter statt Turnen Tanzen, und tanzte dabei mit einem (gutaussehenden) Schulkollegen, der eine Freundin hatte. Diese Freundin war eine „Prinzessin“ eines Clans. Sie war sauer und eifersüchtig, und zischte meiner Tochter zu, dass sie (also die Prinzessin) zusieht, dass meine Tochter ihres Lebens nicht mehr froh wird. Und löste dadurch einen SEK Einsatz aus. Der Göttergatte erhielt ein Telefon (Hier ist die Polizei, ihrer Tochter gehts gut), und ich musste sie von der Schule abholen. Sie war aufgelöst und alleine mit zwei grimmigen Superbullen im Schulzimmer.

Was will ich damit sagen? Meine Tochter zieht aus, und ich bin sehr stolz, dass sie diesen Schritt tut. Eltern sollten die Zeit mit ihren Kindern geniessen, auch wenn sie gelegentlich etwas schwierig sein kann. Vergesst nie, dass sie Euch mehr brauchen als ihr sie, beschützt sie, solange sie das wollen und brauchen, und lasst sie fliegen, wenn sie fliegen möchten.

 

Februar 11 2022

Poison, ihr wisst schon, Alice Cooper, oder Genderideen sind noch nicht ganz tot

Irgendwann muss ich mir das auch noch von der Seele schreiben.

Poison – running deep inside my veins….

Ich steh total auf dieses Wrack. Alice Cooper. Irgendwie ist der echt geblieben. Wie auch immer. Mein Göttergatte ist ja Informatiker und Informatiker arbeiten in Firmen, und Firmen machen irgendwann ein Event. Sie kommen dann auf die Idee, dass Partnery auch mitkommen dürfen. Witzigerweise kommt dann immer eine Programmiererin auf die lustige Idee, ne Discokugel aufzuhängen. Und Glitzermikros auszuhändigen, und dann darf man da die Lieblingslieder mit seinem Star mitsingen. Einmal den Glamour spüren. Die 5 Minuten Berühmtheit.

Und wer schon mal an Büroparties war, weiss, dass das erst funktioniert, wenn schon n paar Bier unten sind. Männlich Sozialisierte versuchen sich mit „Paranoid“, Enden muss es mit Bob Dylan, mit etwas Glück kommt noch Bryan Adams, dazwischen noch etwas „we are the world“, beginnen tun immer die Mädchen, weil Mädchen besser und lieber singen. Und ihr das besser könnt. Was singen wir also?   Wir quäkten „Dancing Queen“, wir fühlten die Liebe mit Donna Summer (Itsogooditsogoodusoweiter), wir waren auch mal wild, und wollten n bisschen Spass, so wie Cyndi. L’Isla Bonita sangen wir, betörten die Informatiker mit unserer und Madonnas Eleganz und  technischen Perfektion, sie in ihren Turnschuhen und schlabbrigen Hemden. Wenn ihr Euch jetzt fragt – ich fuhr lange Strecken mit dem Auto mit. Und ich verbrachte meine Nachmittage vor den „Marantz“ Musikboxen meiner Eltern und hörte SWR 3 Popshop mit Frank Laufenberg. Daher kann ich also Mainstreamscheiss bis 1973. Dann fanden die Mädels, dass sich mein Musikgeschmack vermutlich nicht auf yt-Karaoke findet.  Aber ich sagte dann, dass ich Alice Cooper ganz überzeugend nachmachen kann. Inklusive Blicke und Stock in den Boden knallen, aber das wussten die Mädels nicht. Sie wussten auch nicht, wer das ist. Die Jungs waren neugierig. Monkeymind bestellte sich ein Bier.

Naja, was soll ich sagen. Ich mimte Alice; ich suchte mir aus dem Haufen der Frauen ein passendes Lustobjekt aus (dummerweise die Frau vom Chef, woher soll ich das wissen!) Sie war schockiert. Sie fand den Text ganz furchtbar. Und offenbar konnte sie auch englisch.  Irgendwie war dann der Karaoketeil durch, „Paranoid“ und gut wars….warum ich und Alice immer der Partyschreck sind, weiss ich nicht, ich vermute jedoch, dass es mit der kapputten Rollenvorstellung zu tun hat. Die Musik für Mädchen ist lieb, schön, glücklich, etwas rebellisch und harmonisch. Musik für Jungs ist wild, hat blue-notes, ist auch rebellisch, und gelegentlich gewalttätig. Ich plane, „Melody“ zu singen, an der nächsten Büroparty. Joan Jett kann ich nicht entweihen…sie sollte nicht auf Büropartys gesungen werden. Habt ihr noch andere Ideen?

 

Januar 30 2022

Spaltung ist…

ich sitze am Küchentisch und starre nach draussen. Eigentlich sollte ich lesen.

Spaltung ist, wenn Teil-Selbst-Objekt-Beziehungs-Dyade…

…ich betrachte meinen Brillenrand, von innen. Also ich betrachte meine Brille auf meiner Nase von Innen.Wenn ich dann weitersehe, kommt etwa 30 Zentimeter nichts, und dann kommt der tote Basilikum. Er scheint auf der Fensterbank zu atmen, etwas verwischt. Wenn man den Blick weiterschweifen lässt, zwanzig, dreissig Meter, sieht man die oberen Äste eines mächtigen Baumes, wie er im windgeschützen Hinterhofpark seine winterlichen Äste gen Himmel hält. Er bewegt sich im Wind. In dem leeren Raum zwischen Basilikum und Ästen hats gelegentlich Vögel, die durchfliegen, unbestimmbare dunkle Flecken, zu schnell für dieses eher langsame, beinahe träge Bild. Bei näherer Betrachtung stimmt diese Beschreibung auch nicht. Der Baum bewegt sich fast etwas stereotyp, während das Haus im Hintergrund wie ein Schiff im Sturm schwankt. Meine Augen beginnen zu tränen.

Was war da nochmals mit dieser Spaltung gemeint?

 

Dezember 22 2021

Berlin

Berlin, ick liebe Dir. Janz ehrlich.

Wärst Du ein Mensch, Du wärst eine Frau. In den 20ern hast Du Mata Hari mit deinem Auftreten die Schau gestohlen; du warst wild, du warst schön. Du bist immer noch grausam. Doch auch das sind jetzt 100 Jahre her. Heute stehst du, die Mata Hari von damals, nachdenklich am Küchenfenster in Kreuzberg oder an der Warschauer, und rauchst bis tief in die Nacht. Du schläfst nicht gerne.  Man sieht Dir die Schönheit der vergangen Tage immer noch an, ein trauriges Lächeln in dem immer noch bezaubernden Gesicht. Du hast 1950 Deinen letzten BH gekauft, bequem musste er sein, praktisch. Irgendwann hast Du  ihn aufgehört, ihn zu tragen, immerhin magst Du es, wenn Du wat luftijet anhast, um noch etwas Freiheit auf Deiner faltigen, trockenen Haut zu spüren. Du riechst abgestanden, staubig, im Mai riechst Du nach Rosenwasser, wer weiss, vielleicht ergibt sich doch noch eine Gelegenheit. Dann hast du deinen frivolen Moment. Gelegentlich lachst Du ein bellendes Lachen, und verwirrst damit deine nähere Umgebung. Es krabbeln Millionen Menschen tagtäglich auf Dir umher, tun die einen Dinge und lassen die anderen. Du wartest geduldig. Manchmal bist du müde. Deine Flüsse sind verschmutzt oder unterirdisch verlegt. Wenn es regnet, sterben die Fische, die es hin und wieder versuchen, bei Dir zu leben. Du bist immer noch ne Schwierige, warst du damals schon. Du bist immer die Hauptstadt gewesen. Nicht immer von dem selben Staat, aber Du warst immer die Königin. Einen König brauchtest Du nie, Du hast Deine Liebhaber. Nebst eigenartigen Berlinern leben sehr viele Viecher bei Dir, seltene Vögel und Silberfüchse, Hasen und Wildschweine.  Du siehst ihnen von Deinem Küchenfenster aus zu. Gelegentlich glimmt die Zigarettenspitze auf, ansonsten sieht man Dich nicht. Du hast eine Zigarettenspitze aus Elfenbein, ein Geschenk der Garbo, auch so eine Mata Hari. Du wartest, ziehst an der Zigarette und verfällst leise weiter. Du krankst an Mietern, welche ihre Wohnungen nicht mehr bezahlen können, an Vermietern, die nicht für die Häuser sorgen wollen, du leidest an zu wenig Grundwasser und an mit Schwermetallen kontaminierte Böden. Manchmal wünscht du dir, sie hätten besser auf dich achtgegeben. Dann zündest du dir eine neue Zigarette an, siehst in das Dunkel und wartest.

Dezember 21 2021

Odins Eierlikör

Ich steh ja auf Weihnachtsmärkte. Ich  stehe auf Adventszeit. Ich bin ein grosser Fan von frischgetöpferten, graubeige-melierten Kerzenhaltern, mit breitem Rand für die Zündhölzer und die Kerzenstummel. Ich liebe handwerklich hergestellten Scheiss, den ich im Geschäft nicht ansehen würde. Nie. Im. Leben. Aus irgendwelchen Gründen fühle ich mich dann wie in einem Stück Kasperle-Theater, bin ein Teil des Dorfes und Teil der Aufführung. Es gibt Bier, es gibt Wurst, es gibt Äpfel, mit Schoko überzogen, es gibt Pilze und es gibt Glühwein. Für die Kurzen gibt es Karussel. Es gibt Stricksocken, es gibt Schals, es gibt Töpferwaren, es gibt vom sauertöpfischen Buchbinder handgeschöpftes Büttenpapier, unbrauchbar zum Schreiben, und für unwissendes Volk wie mich sowieso die Perle vor die Sau geworfen. Ich fühle mich wie Rössli Hüh, von Trudi Gerster vorgelesen: immer am Staunen, etwas dümmlich, verblüfft, was es nicht alles gibt. Das ist eigentlich auch schon alles: Aber ich habe vergessen, zu erwähnen: Odins Eierlikör.

Odins Eierlikör wird bei einem Stand angeboten, der wie der gleichnahmige Gott heisst. Das Emblem sieht aus, als wäre es direkt von Maulafs Helm (Asterix und die Normannen)

 

abgezeichnet. Aber in Rot. Das macht den Eindruck eines behelmten Grillteufels. Odins Stand ist der Grösste am Platz. Verstehe ich gut. Wir werden mit einer Mischung aus Amüsemang und Verachtung gemustert, tragen wir doch die Maske im Gesicht. Odin verkauft alles, was irgendwie hochprozentig ist, und die Städtchenjugend steht da und trinkt.  Selbst hergestellten Eierlikör.

Ich wollte den Kalauer ja verhindern, aber ich schaffe es irgendwie nicht; echt jetzt. Was bringt selbsternannte richtige Kerle dazu, an Odins Stand Likör aus den Eiern vermutlich desselben zu trinken?

Wir flüchten in die Altstadt – auch sie ist voller vorweihnachtlicher Menschen. Aufgekratzte, fröhliche Menschen. Ich mag es, Geschenke einzukaufen. Man befasst sich mit Menschen, die man vielleicht schon lange nicht mehr gesehen hat, um ihnen ne Freude zu machen. Durch den Lockdown und das zu Hause bleiben müssen hatte ich den Eindruck, dass der Weihnachtseinkauf insgesamt mehr als Ausgehen und als etwas Besonderes genossen wurde. Man ist nicht mehr so in Form, das heisst, ist noch schneller erschöpft. Aber es hatte sich, wie ich fand, dennoch gelohnt. Was ich jetzt noch von Husum haben möchte, sind getrocknete Morcheln, für meine Nachweihnachtsblätterteigpastetchen, vegane Sahne und Sauternes. Aber das finde ich alles auch noch!