März 27 2021

Pessach und der Auszug aus einem alten Leben

Hallo,

ab heute feiern wir Pessach. Zum ersten Mal. Nicht, weil wir irgendwelche Probleme mit Religion haben. Sondern aufgrund der Tatsache, dass das Jüdische in unserer Familie ausgemerzt werden sollte. Meine Uroma (auf dem Auszug des Standesamtes stehen die Namen Graszt, Abt und Ebner) hat meine Oma mit 19 bekommen. Da war sie nach Schweizer Gesetz zu jung für ein Kind. Ausserdem wurde sie von dem Vater meiner Oma sitzengelassen. Meiner Uroma wurde das Kind weggenommen. Meine Oma wuchs bei einem evangelischen Zürcher Pfarrer auf, der es nicht lassen konnte, sie auch zu taufen. Sie hat nie irgendwelche Religion ausgeübt (so wie ich das als Kind erlebt hatte). Ihre Freunde waren die orthodoxen Aschkenasim aus Zürich. Ein zentraler Name war immer wieder Rivgi Gross. Sie schien eine wichtige Rolle im Leben meiner Oma gespielt zu haben.Irgendwann kam dann meine Mutter zur Welt, und wurde bei der Geburt dann auch „Notgetauft“, offenbar, weil ihr junges Leben etwas auf wackligen Beinen stand. So wurde meine Mutter evangelisch-reformiert. Die heiratete dann einen Katholiken. Ich wurde reformiert getauft. Niemand hat sich je um Religion gekümmert. Bis auf die Freunde meiner Oma, die mir jiddisch, Lieder und Geschichten beibrachten und mir irgendwann anboten, mich in die Synagoge zu nehmen. Ich war fasziniert. Ich wollte dazugehören. Meine Mutter weigerte sich. Sie wolle keinen Juden in der Familie, das machte das Leben sehr kompliziert: Koscheres Essen, und Freitagabend Stress, wer jetzt wen abholen sollte, weil ich ja dann weder Zug noch Auto fahren dürfte; zu den weiteren Horrorszenarien, die sie mir ausmalte, gehörten die Pflicht, sich die Haare abzurasieren (sie waren und sind mein ganzer Stolz), und die Pflicht, nach Mottenkugeln riechende dunkle Regenmäntel tragen zu müssen, auch im Sommer. Also ging ich nicht in die Synagoge. Dann eines Tages mussten wir mit „Biblische Geschichte und Sittenkunde“ uns die Synagoge in der Westtangente ansehen. Da war ein sehr geduldiger Rabbi, dem ich diese Geschichte, die ihr da lest, auch erzählt hatte. Er sagte mir, ich sei eine Jüdin. An dem Abend war ich sehr stolz, ohne genau zu wissen, worauf. Vermutlich auf ein Volk, das es geschafft hatte, bis zu mir ins Jetzt,  allen Mordanschlägen zu widerstehen. Ich habe es meine Mutter sicherheitshalber nicht wissen lassen.

Meine Mutter ist mein Drachen und mein Fluch. Irgendwann hab ich es geschafft, mich zu befreien. Wir sind weggezogen, haben ihren Einflussbereich verlassen. Die Mischpoke verlassen. Ich konnte wachsen, und ich konnte frei werden.  Ich bin wieder zur Synagoge, dieses Mal zu Rabbinerin Gesa Ederberg. Auch sie bestätigte: Ich bin eine Jüdin.

Ich fühle mich verwirrt. Ich bin eine Jüdin. Aber ich bin auch keine Jüdin. Ich weiss nicht viel. Ich lese mich ein. Auch kritische Dinge. Ich sollte hebräisch lernen. Das fällt mir so unendlich schwer. Ich kämpfe mich jetzt durch Harry Potter, Stein der Weisen, auf jiddisch. So hab ich wenigstens etwas Kontrolle, ob ich richtig entziffere. Ich habe Hemmungen, wieder in die Synagoge zu gehen, ich kenne niemanden, und fühle mich nicht dazugehörig. Was irgendwie unfair ist, die Geschichte war unfair.

Meine Tochter sehnt sich nach Mischpoke. Nicht nach meinen Eltern, bewahre, sondern nach Zugehörigkeit und Roots. Nu, jetzt sind wir wieder bei Pessach. Die Freiheit, ein freier Mensch und Jude zu sein. Und vielleicht finden wir eines Tages die unbekannte Mischpoke, die unser Familie seit 1919 so gewaltsam verwehrt wurde.

 

Das Bild wurde entnommen auf folgender Site:

Passover Clipart – ClipArt Best

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April 21 2019

Ostergeschichte

Der Geier vor mir räusperte sich gedämpft; wie eigentlich alles in diesem Raum gedämpft schien. Das Licht, die Stimme, die Stoffe an den Wänden, die Stimmung, die Schritte der Angestellten. Der Geier vor mir blickte mich fragend an und murmelte: „Eine wirklich schöne Idee, die Eltern auf ewig zu vereinen. Gerade Einzelkinder wünschen sich oft, die Eltern auf dem Kamin stehen zu haben, in Form eines wunderbaren Steins. Diese Dienstleistung gibt es auch für Tiere, aber das ist wohl nicht dasselbe; nur den liebenden Eltern steht es zu, jeden Tag auf einem Ehrenplatz bewundert zu werden“ fügt er scheinheilig hinzu und überreicht mir das Kästchen mit dem funkelnden Stein, zuvor legt er das Kästchen in einen Samtbeutel. Es ist dunkelgrün und trägt den Namen des Bestattungsinstituts. „Sie haben die richtige Entscheidung getroffen.“ Ich nicke, betrübt, und denke an die schmerzhaften Ratenzahlungen für diesen Stein. Der Geier raschelt zur Türe, öffnet sie mit einer leichten Verbeugung.

Meine unter sechzigtausend Bar eingeschmolzenen Eltern in der Tasche betrete ich den Vorplatz des Bestattungsinstituts. Sie lernten zu spät, was Druck ausüben bedeutet. Meine Ersparnisse gingen für diese Diamantbestattung drauf. Meine Rache war posthum. Ich freute mich wie ein kleines Kind. Jetzt würden sie lernen, dass Design wichtig sein konnte; aber vielleicht nicht so wichtig, wie das Kind, das sie nicht mehr haben wollten, als es älter wurde. Im Internet hatte ich einen Goldschmied gefunden, dessen Spezialität es war, Eltern in Ringe zu fassen, deren Form Mode war im Geburtsjahr des Verstorbenen. Hier hatte ich mich für ein stein- und protzverkrustetes Monstrum aus dem Jahre 1950 entschieden. Der farblose Diamant sollte in Gelbgold gefasst werden, ein Material, das sie immer mit minderwertigen und geschmacklosen Menschen, die sich leicht blenden liessen, gleichstellten. Der Diamant würde mit Aquamarinsplittern umfasst werden. Aquamarinsplitter konnte ich mir gerade noch leisten; sie sollten meine ungetrösteten Tränen darstellen. Wenn dieser Ring dann fertiggestellt sein würde, dann, endlich, würden sie von ihren Vorurteilen geheilt. Dazu hatte ich eine Vereinbarung mit einem Pfandleiher vom Herrmannplatz getroffen, der diesen Ring in die Ecke stellen würde, neben dem silbernen Zwei-Franken-Stück aus dem Jahre 1968. So konnten sie die verhassten Ausländer jeden Tag und jede Nacht beobachten. Ihr verdienter Ehrenplatz.

Beschwingt, die Luft so sauber und die Sonne so schön scheinen zu sehen, fahre ich mit meinem klapprigen Rad durch die frischgewaschene, freundlich aussehende Welt, die mir nichts mehr tun konnte.

 

 

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