Juni 1 2021

Giuseppe San Rapido di Milano

Diesen Beitrag schreibe ich auf Anregung meiner Freundin R.W. Ich danke Dir und möchte Dir diese Geschichte widmen. Ohne Dich wäre ich nicht die, die ich heute bin.

Die Kaffeemaschine steht in der Küche; da nicht irgendwo. Sie steht im Zentrum der Küche, leicht bedienbar und von überall her gut erreichbar. Wenn die Sonne auf die Chromleitungen (die eine ist für Wasserdampf zur Milchschaumherstellung, die andere als Heisswasserlieferant) scheint, beginnt für die Kaffeemaschine einen guten Tag; dann beginnt sie sanft zu leuchten, im Sommer werden sogar die Chromrohre warm.

Durch ein unglückliches Mäuschen, das im Keller am falschen Kabel nagte, erhielt die Kaffeemaschine- schlagartig- ein Bewusstsein. Er nennt sich seit diesem Ereignis Giuseppe San Rapido di Milano. Man könnte jetzt einwenden – die Kaffeemaschine ist ein ER?

Vielleicht erklärt sich die Ignoranz des Artikels durch die Kaffeemaschine selbst. Er kann von seinem Platz in der Küche aus fernsehen. Das macht er Mithilfe der Druckanzeigen, die zu den Chromleitungen gehören. Er liebt es, von seinem Platz in der Küche die Jacobs-Krönung-Werbung zu betrachten. Aufgrund der Werbeinhalte kam er zu dem Schluss, das vor allem Frauen auf ihn angewiesen sind. Und da sah er zum erstenmal diesen unglaublichen Dampf, der da aus der Kaffeetasse aufgestiegen ist, golden und weiss und verheissungsvoll. Auch fiel ihm auf, dass Männer den Frauen mit Kaffee eine Freude machen. In der Werbung wie auch sonst. So beschloss er, sich mit den Männern zu solidarisieren und selbst einer zu sein.

Doch wie bei allen Dingen, die zu intelligent für ihre eigentliche Funktion sind, begann Giuseppe San Rapido di Milano sich zu langweilen. Er sah sich in seiner Freizeit gerne italienische Werbung an. Und er erkannte, dass er ein sogenannter „Gebrauchsgegenstand“ war, so wurde er auch behandelt. Er wurde geputzt. Er wurde gepflegt. Doch wurde er auch geachtet, für das, was er war? Konnte man sogar von Liebe sprechen? Wurde er bei seiner Familie so kollegial behandelt, wie das seinen Geschwistern in der italienischen Werbung durch Baristas widerfährt? Waren sie Gefährten eines gemeinsamen Lebenswegs?

In seinen einsamen Nächten, in der die Familie keinen Besuch hatte, und es für ihn nichts zu tun gab, begann er zu recherchieren: offenbar gab es diese Schicksale überall. Offenbar, so fand er heraus, gab es sogar „Nutztiere“, die ihrerseits „Gebrauchsgegenstände“ für sich beanspruchen konnten. Er begann darüber nachzudenken, ob es in dieser Welt verschiedene Schichten und Wertungen gab. War er wertvoller, mit all seinem Chrom, als zum Beispiel ein Tränkesystem? War er, der direkte Diener und Untergebene der Menschen, wertvoller als das Nutztier? War das Nutztier wertvoller? Er begann, an sich zu Zweifeln. Konnte er seinen Wert steigern, wenn er jedesmal, wenn jemand in die Küche kam, sofort einen Kaffee herausgab? Das konnten die einfachsten Tränken. Er fand, dass es eine gute Idee war. Und änderte seinen Namen in Giuseppe San Rapido „L’Espresso rapante“ di Milano. Der neue Name, die neue Identität gab ihm die Möglichkeit, Abstand zu nehmen, und etwas Neues zu sein.

Er bestellte bei Siri (eigentlich hiess sie ja Gabi-Hanna, oder noch einfacher, Shania) 3 Tonnen Illy Kaffeepulver (bei der Menge orientierte er sich an der Menge Ziegel, die der Besitzer seines Kaffees am Tag zuvor bestellt hatte. „Illy“ wie auch „Tonnen“ sagte ihm gar nichts, aber ihm gefiel der Schaum, den er auf youtube betrachtet hatte); Siri hatte nichts dagegen, also schien das die richtige Menge zu sein. Als die Familie am nächsten morgen die Küche betrat, arbeitete er freudig drauflos, aus allen Rohren kam Kaffee (er hatte extra die Rohre umgeleitet, ein lang gehegter Wunsch von ihm). Kaffee für alle, sogar den Kater und den Hund, der alles aufleckte. Bis auf den Hund schien sich jedoch niemand richtig zu freuen. Er beschloss, diese Nacht Kontakt mit einem Getränkesystem aufzunehmen, vielleicht hatte er was falsch gemacht.

Nachts (er war sauber geputzt worden), nahme er mit einem Getränkesystem in der Gemeinde Wasserauen Kontakt auf. Das Getränkesystem hiess Hugo1. Hugo1 war keine Geistesgrösse, aber nach einigem überlegen meinte Hugo1, Schuld sei die Tatsache, dass er eben Kaffee verspritzt habe und nicht Wasser. Man erwarte von ihm auch Wasser, und noch niemand hätte sich jemand beschweren müssen. Klar und kalt, so mögen es die Leute. Giuseppe San Rapido „L’Espresso rapante“ di Milano war beleidigt. Er war ein hochkomplexes, ästhetisches Stück Ingenieurskunst. Was soll er sich weiter mit einer Hilfestellung für Nutztiere unterhalten. Er beschloss, sich nachts mit dem Kühlschrank zu unterhalten, ein Spezialist für kühles Wasser. Der Kühlschrank fand seine Eigenintiative unterhaltsam, merkte jedoch an, dass Menschen es mögen, wenn das Wasser in Flaschen oder eben Behältern wie Tassen untergebracht seien. Ausserdem, so habe ihm Siri gesagt, mögen Menschen phantasievolle Maschinen nicht.

Tags darauf kam ein Mann in braunem Anzug, und kurbelte an einigen Dingen herum, und baute die Chromstangen aus und ersetzte sie durch neue. Ausserdem entfernte er ein Kabel in der zentralen Steuerung. Das sei durchgeschmort, hatte er behauptet. Und es hätte Brandgefahr bestanden. Die Kaffeemaschine merkte, wie sich etwas veränderte…sie konnte jetzt viel schneller denken. Allerdings kam sie nie sehr weit, weil sie sich in Nahe Details verliebte. Ihr war zum Beispiel noch nie aufgefallen, dass der Kater ihn tagsüber auf der Küchenabdeckung besuchte. Dieses zarte Haar, das er auf der Brust hatte! Vorne wurde es hell, hinten beim Körper war es dunkel.Und so fein! Haar für Haar. Im Gesicht war das Haar seltener, dafür viel länger. Der Kater hatte manchmal gelbe Augen, manchmal schwarze; Giuseppe San Rapido „L’Espresso rapante“ die Milano vergass sich komplett in der Betrachtung von Schönheit, die nicht seine eigene war.

Er braute noch viel Kaffee. Die 3 Tonnen Illykaffee, die er bestellt hatte, konnte die Familie an Freunde und Geschäfte weiterverkaufen. Siri wurde durch eine Alexa ersetzt. Man kam ihm nie auf die Schliche. Wenn die Sonne schien, leuchteten die neuen, warmen Chromrohre im Licht.

 

 

März 27 2021

Pessach und der Auszug aus einem alten Leben

Hallo,

ab heute feiern wir Pessach. Zum ersten Mal. Nicht, weil wir irgendwelche Probleme mit Religion haben. Sondern aufgrund der Tatsache, dass das Jüdische in unserer Familie ausgemerzt werden sollte. Meine Uroma (auf dem Auszug des Standesamtes stehen die Namen Graszt, Abt und Ebner) hat meine Oma mit 19 bekommen. Da war sie nach Schweizer Gesetz zu jung für ein Kind. Ausserdem wurde sie von dem Vater meiner Oma sitzengelassen. Meiner Uroma wurde das Kind weggenommen. Meine Oma wuchs bei einem evangelischen Zürcher Pfarrer auf, der es nicht lassen konnte, sie auch zu taufen. Sie hat nie irgendwelche Religion ausgeübt (so wie ich das als Kind erlebt hatte). Ihre Freunde waren die orthodoxen Aschkenasim aus Zürich. Ein zentraler Name war immer wieder Rivgi Gross. Sie schien eine wichtige Rolle im Leben meiner Oma gespielt zu haben.Irgendwann kam dann meine Mutter zur Welt, und wurde bei der Geburt dann auch „Notgetauft“, offenbar, weil ihr junges Leben etwas auf wackligen Beinen stand. So wurde meine Mutter evangelisch-reformiert. Die heiratete dann einen Katholiken. Ich wurde reformiert getauft. Niemand hat sich je um Religion gekümmert. Bis auf die Freunde meiner Oma, die mir jiddisch, Lieder und Geschichten beibrachten und mir irgendwann anboten, mich in die Synagoge zu nehmen. Ich war fasziniert. Ich wollte dazugehören. Meine Mutter weigerte sich. Sie wolle keinen Juden in der Familie, das machte das Leben sehr kompliziert: Koscheres Essen, und Freitagabend Stress, wer jetzt wen abholen sollte, weil ich ja dann weder Zug noch Auto fahren dürfte; zu den weiteren Horrorszenarien, die sie mir ausmalte, gehörten die Pflicht, sich die Haare abzurasieren (sie waren und sind mein ganzer Stolz), und die Pflicht, nach Mottenkugeln riechende dunkle Regenmäntel tragen zu müssen, auch im Sommer. Also ging ich nicht in die Synagoge. Dann eines Tages mussten wir mit „Biblische Geschichte und Sittenkunde“ uns die Synagoge in der Westtangente ansehen. Da war ein sehr geduldiger Rabbi, dem ich diese Geschichte, die ihr da lest, auch erzählt hatte. Er sagte mir, ich sei eine Jüdin. An dem Abend war ich sehr stolz, ohne genau zu wissen, worauf. Vermutlich auf ein Volk, das es geschafft hatte, bis zu mir ins Jetzt,  allen Mordanschlägen zu widerstehen. Ich habe es meine Mutter sicherheitshalber nicht wissen lassen.

Meine Mutter ist mein Drachen und mein Fluch. Irgendwann hab ich es geschafft, mich zu befreien. Wir sind weggezogen, haben ihren Einflussbereich verlassen. Die Mischpoke verlassen. Ich konnte wachsen, und ich konnte frei werden.  Ich bin wieder zur Synagoge, dieses Mal zu Rabbinerin Gesa Ederberg. Auch sie bestätigte: Ich bin eine Jüdin.

Ich fühle mich verwirrt. Ich bin eine Jüdin. Aber ich bin auch keine Jüdin. Ich weiss nicht viel. Ich lese mich ein. Auch kritische Dinge. Ich sollte hebräisch lernen. Das fällt mir so unendlich schwer. Ich kämpfe mich jetzt durch Harry Potter, Stein der Weisen, auf jiddisch. So hab ich wenigstens etwas Kontrolle, ob ich richtig entziffere. Ich habe Hemmungen, wieder in die Synagoge zu gehen, ich kenne niemanden, und fühle mich nicht dazugehörig. Was irgendwie unfair ist, die Geschichte war unfair.

Meine Tochter sehnt sich nach Mischpoke. Nicht nach meinen Eltern, bewahre, sondern nach Zugehörigkeit und Roots. Nu, jetzt sind wir wieder bei Pessach. Die Freiheit, ein freier Mensch und Jude zu sein. Und vielleicht finden wir eines Tages die unbekannte Mischpoke, die unser Familie seit 1919 so gewaltsam verwehrt wurde.

 

Das Bild wurde entnommen auf folgender Site:

Passover Clipart – ClipArt Best

Juli 1 2020

Ein Opfer der Werbung, Tag 1

Es ist wieder soweit. Ich bin übermüdet und seh in den Spiegel. Ich sehe ein Gesicht mit Altersflecken, Augenringen und Falten. Ich entsinne mich an den Abend, an dem ich mich schminken wollte, und die Haut um die Augen liess sich widerwillig nach links und rechts ziehen, aber Farbe war nicht zu montieren. Als sie dann doch endlich aufgetragen war, zogen sich bald tiefe dunkelgrüne Täler da durch, wo ich doch eigentlich sonst Falten habe. Damals liess ich es frustriert sein.

Heute abend geh ich in den Ausgang. Die Frauen da, so weiss ich, zum einen von Natur aus schön, oder aber sehr bewandert in der Kunst des Malens (oder beides). Ausserdem sind sie im Schnitt 10 bis 15 Jahre jünger.

Was ist zu tun? Lifting kommt nicht in Frage. Also geh ich zu einer Drogeriekette, die alle Produkte zwischen Deo, Kettensäge, Babypamps und Hühneraugencreme führen. Im Hinterkopf eine Werbung, in der 3 gut Aussehende Mittvierzigerinnen mit wenig Falten um die Augen glücklich in luftigen, weissen Leinenkleidern zusammen sitzen, gehen, lachen. Strahlende Augen mit wenigen, charmanten Falten. Ich gebe ja zu, das will ich auch.

Nun, mein heutiger Beutezug durch die Abteilung „Haut“ und „Augen“ liess mich Arganöl und Algenextrakt kaufen, dass die Collagen und Hyaluronsynthese stimulieren soll. Das tut es bei 80% der Probandinnen, aber erst nach 28 Tagen. Ich bin genug realistisch, um mir sicher zu sein, dass ich zu den anderen 20% gehöre. Dazu gehöre ich immer. Das bedeutet auch, dass ich 4 von diesen Briefchen kaufen muss, ehe erste Ergebnisse zu sehen sind. Das machete ich ja.  Ich wüsste jetzt ja gerne, wie lange das dauert, bis es fertig eingezogen ist, ich seh gerade jetzt nicht sehr viel. Das kommt vermutlich vom Ölfilm auf den Augen. Wenn ich schon bei dem Feuchtigkeitsmasken war, dann hatte es da noch welche für die Hände, die musste ich auch haben. Wegen dem häufigen Gebrauch von Desinfektionmitteln. Das zeigt tolle Ergebnisse. Aber die 20 Minuten Einziehzeit  mit diesen Handschuhen hab ich beinahe nicht überlebt. Aber man weiss, das wahre Alter erkennt man immer an den Händen!

Dann gab es da noch einen fabelhaft schönen Lippenstift, und einen Malkasten auf dem „Revolution“ stand. Insgesamt viele blaue, grüne und goldbraune Töne. Vielleicht will meine Tochter ja auch probieren, wir haben da son Sharing am laufen. Das Dumme an diesem Abkommen ist, dass es mir immer total peinlich ist, die Schminke meiner Tochter zu benutzen. Dadurch ist das Sharing eher einseitig.

Überhaupt, diese Maskierung! Eigentlich ist es mir immer etwas unangenehm, wenn ich mich eingecremt fühle. Und deswegen die Kraftpakete für die Nacht. Ein Hyaluron-Serum bietet Sofort-Effekte. Also, wenn ich schlafe, sieht die Haut wie neu aus. Deswegen ergänze ich sicherheitshalber noch bei dem Vitamin C-Powerkonzentrat, das mir verspricht, die Hautfeuchte um 97% zu erhöhen. Allerdings mildert das nur „erste Linien und Fältchen“, vielleicht ist da das Kind bereits zu tief  in den Brunnen gefallen.

Egal! Der „Liquid Camouflage Concealer“ mit hoher Deckkraft verspricht mir helle Haut, wo sonst ein schwarzer Bach aus dünner Haut hängt.

Und dann ging mir die Kohle aus. Aber, der nächste Lohn kommt bestimmt, und bis dann sind die 28 Tage vorbei.

 

November 28 2017

Swissness und Drogen

es ist windig und kalt, und seit ein paar Tagen Brauche ich geschmolzenen Käse. Gänse fliegen nach Afrika, das ist eben so. Heute kam es endlich dazu. Freitagabend, Wochenende.
Doch es gab Angstmomente. Zum Beispiel, als es in der Wohnung mehrfach dunkel wurde, nachdem der Stecker des “Racletteofens” in die Nähe einer Steckdose (Schlafzimmer, Gang und Wohnzimmer) kam. Oder auch, als ich sah, wie wenig Raclettekäse 426g eigentlich ist. Reicht das für 2 Personen? Oder als sich die Senffrucht-Kirschen als irgendwie nicht so Senffruchtig, sondern eher marzipanartig herausstellten. Aber so ist das Leben im Exil eben, da muss man improvisieren.

Wichtig bei Raclette ist das Setting–> womit wir bei den Drogen sind. Es gibt mehrere Arten, Käse zu verdauen. Mit Hilfe von Schnaps, was in der Regel ein “Kirsch” erledigt. Oder Schwarztee. Geht auch. Und Kümmel (als Gewürz auf dem geschmolzenen Käse)
Raclette isst man in der Schweiz. Berlin ist nicht in der Schweiz. Keine Alpenluft, zuwenig Kühe, alles Scheisse. Das Setting ist nicht passend, die Abwehrkräfte der Inneren Organe sind unvorbereitet. Eigentlich dachte meine Leber, es gäbe wieder sowas luftiges, veganes, wobei sie natürlich nicht übertrieben doll arbeiten muss, dass faule Teil. Hat sie sich gedacht. Deswegen sollten Lebern nicht denken.
Die Leber meiner Tochter hat sich nach zwei bis drei Käsescheiben mit dem Magen zusammengetan, und sie bat um Auszeit. Mein Göttergatte hat sich als Veganer natürlich von Käse ferngehalten, um der Swissness halber trank er Kirsch zu den Kartoffeln.
Also hab ich mich um den restlichen Käse gekümmert.
Meine Galle scheint nicht anwesend zu sein, mein Magen ballt sich zum Unspunnenstein. Mir ist nicht mal schlecht. Aber ich hab schrecklich Bauchschmerzen.
Nichtsdestotrotz, ein Raclette braucht ein Loblied, deswegen ist es etwas mehr Text geworden als nur Foodporn

März 3 2015

HEISENBERG ERZÄHLT

Hörbuchversion

Sie WAR , IST, und WIRD IMMER SEIN.

Trotz e-books. Doch die änderten viel.

Menschen verloren ihren Respekt vor uns Büchern. Wir neueren Bücher waren bloss sperrige, veraltete Datenträger, und die Liebe zum Handwerk, zum Geruch, zum Staub ging verloren. Bibliotheken sind nur noch Prestigeobjekte. Die Möchtegernbibliothek des gescheiterten Bürgermeisters von Berlin…sie existierte bereits. Durch uns. Unerkannt in ihrem Bauch schlummerten schöne Geschichten und schmutzige Geheimnisse. Geschickt kombiniert war die grosse Bibliothek ein Bollwerk von Macht. Leider vergassen nachlässige Menschen hin und wieder diese Tatsache. Und nannten sie achtlos nur „die Bibliothek“.

Sie war immer schon da. Die Architektur erinnerte an eine sogenannte postmoderne Monströsität, es könnte jedoch auch eine unheilige Vereinigung eines Speer-Bauplans mit einer filigranen Jugendstilfassade sein. Menschen erinnerten sich an sie. Alte wussten, dass sie schon hier war, vor dem grossen Krieg. Andere behaupteteten steif und fest, dass sie ein kalter Fremdkörper in einer grossen Leere war.

Sie hatten alle recht. Sie war die Bibliothek. Und sie erinnerte sich an alle.

Seit jedoch ein etwas pflichtvergessener und dabei ertappter Schüler seinen Pratchett zwischen Bakunin und Trojanow stopfte, kam Leben in unsere Bibliothek. Fantasy bei Geschichte! Vom alphabetischen Standpunkt war das zwar absolut richtig, inhaltlich jedoch ein Segen für uns, die Bibliothek. Denn die grossen Ideen zwischen den Buchdeckeln fanden endlich Gehör, und ein Austausch fand statt. Und damit die GROSSE REVOLUTION. Die Bibliothek entwickelte ein Bewusstsein. Sie nannte sich „UTOPIA“ und kämpfte gegen das Vergessen von uns „unwertvollen“…so werden wir Zweitausgaben, Erfolgsausgaben, Buchclubausgaben von sogennanten Kunstsammlern genannt.

Ich bin eingenickt, verzeih mir, ich bin nicht mehr das jüngste. Wo waren wir? Die Bildung von UTOPIA war eigentlich eine Reaktion, die es gar nicht hätte geben dürfen…Eine literarisch-historisch-chemische Reaktion. Was, Du willst wissen, woher ich das alles weiss? Ich wurde eingeweiht. Eigentlich liegen mir solche extremistischen Gebilde gar nicht.

Ich bin nur eine Buchclubausgabe eines populärwissenschaftlich-philosophischen Werkes eines grossen Physikers. Ich muss diese Geschichte erzählen..aufgrund meines Titels, den ich hier nicht erwähnen möchte, hält man mich für neutral, und ich geb mir Mühe, es zu sein. Ich bin wissenschaftlich.

Der regste Austausch von Ideen und Gedanken, von der Utopie der Gleichberechtigung des geschriebenen Wortes war bei der sogenannten „Buchrückgabe“. Hierher kamen alle, früher oder später. Hier wurde nachts im Bücherkollektiv entschieden, wohin sich die Bibliothek bewegte. Die vermutlich beste Idee war, als wir einen Buchbinder einstellten..er durfte sich an die raren Formate-eine Herausforderung für einen Buchbinder-wagen, im Gegenzug musste er unter anderem mich reparieren. Wir gaben ihm ein Buch über Lichtnahrung zu lesen, und dadurch war er nie mehr hungrig.

Jede Bibliothek braucht Besucher. Ein Buch muss angefasst werden. Nicht mit Pommes-Händen. Wir beschlossen, unsere Lieblingsbesucher aufzunehmen. Dann entschieden wir uns für die Isolation. Das ging Schlag auf Schlag…ein Zauberer aus einem Pratchett-Buch sprach einen Regenzauber. Es regnete wie nie zuvor..Menschen schwammen zur Bibliothek, die aus dem Wasser ragte. Sie erflehten Einlass. Viele Menschen ertranken. Doch UTOPIA liess sie nicht mehr hinein. Nasse Menschen sind nicht geeignet, eine Bibliothek zu besuchen.

Ausserdem ist es nicht richtig, uns als Ersatz zu sehen, nur wenn das e-book hinüber ist, und die Batterie nicht mehr kann…wir Bücher haben Gefühle, die Bibliothek vereint unsere Gefühle. Ja, wir wurden regelmässig gekränkt. Irgendwann wurde der Zauberspruch „Finite Incatatem“, um eine Überflutung im zweiten Stockwerk zu verhindern, gelesen und es hörte auf zu regnen. Die Bibliothek wurde alt, doch UTOPIA wurde böse. Und dadurch wir. Die Geschichten waren von Menschen gemacht und für Menschen aufgeschrieben. Die Geschichten brauchten mehr Menschen, um zu leben. Wir Bücher waren unzufrieden, niemand streichelte mehr unser Buchrücken, keiner, der die Seiten geradestrich. Hin und wieder einer der Lieblingsbesucher, aber das reichte uns einfach nicht. Es wurde still im Lesesaal. Das Geflüster war verstummt, hin und wieder Schritte, doch auch die waren mittlererweile bekannt.

Wie bitte, du schimpfst uns grausam?Es ist nur konsequentes Handeln, verstehst Du? Wir wurden elektronisch eingelesen. Projekt Gutenberg, e-books, Bildung für alle! Hah! Eine Demütigung für ein Buch. Sind wir es nicht Wert, angefasst und bewundert zu werden? Können die Leser keine Woche warten, bis wir ausgeliehen werden können? Hast Du schon mal etwas von Alexander von Humboldt in den Händen gehalten oder nur Kopien „gesehen“?

Item, willst Du wissen, wie es weitergeht, oder willst du mir ein schlechtes Gewissen einreden? Dann geh doch die anderen fragen, wenn du dir eine schöne Antwort erhoffst. Meine ist exakt und wissenschaftlich. Dafür bin ich hier!

Hier der eigentliche Tiefpunkt von unserer Seite der Geschichte. Und wie bei jeder Utopie, fand auch diese ein Ende. Menschen würden sagen, von hier an wird alles besser…ich hab auch schon von einem gebrochenen Bann gehört, doch das ist absoluter Blödsinn. Es gab nie Bannflüche.

Ein Junge in einem seltsamen Raumanzug auf einem Pony hatte den Regen überlebt. Woher er kam, das weiss ich nicht. Ich vermute jedoch, irgendwo in der Nähe hatte es einen Berg. Wie sonst konnte er nur den langen Regen überlebt haben? Es kann natürlich auch sein, dass der Raumanzug verhinderte, dass sich der Junge mit verseuchtem Wasser irgend eine hässliche Durchfallerkrankung eingefangen hatte. Ich geh davon aus, dass er eine Wasserquelle in seiner Nähe hatte. Vermutlich ein sogenannter „Nerd“. Vielleicht war er einer der vielen Autoren des „AnarchistCookbook“ Die haben auch oft seltsame Vorstellungen von harmonischem Zusammensein…von kochen haben sie sowieso keine Ahnung. Cookbook ist eine stolze Bezeichnung für dieses Buch, naja, im Überleben sind sie angeblich nicht schlecht. Von unmöglichen Situationen, in die sie sich oft selbst hineinmanövrieren, übrigens.

Soll ich jetzt weitererzählen?

Die Frage drängt sich mir auf: Wieso kann ein Nerd reiten? ….ich weigere mich jedoch, Mitleid mit dem Jungen zu haben. Wer einen Raumanzug trägt, benutzt auch e-books.

Während des langen Regens gab es immer auch Leute, die sich mit Booten in die Bibliothek retten wollten. Einige Heilige Bücher haben ein Flair für Männer, die sich eine Arche bauen. Gegen Heilige Bücher gibt es nichts einzuwenden. Die Diskussion um die Aufnahme dauerte im Bücherkollektiv jedoch zu lange, denn mehrere Kunstbände machten sich Sorgen um ihren Standplatz. Es gab endlose Diskussionen um Neuauflagen und erweiterte Neuauflagen der Heiligen Bücher. Erweiterte Bücher brauchen mehr Platz, mehr Platz wird auf Kosten der Frontalpräsentation abgebaut. Es gibt nichts wichtigeres für ein Kunstbuch als die Frontalpräsentation. Wer ausgeliehen wir, der wird auch zurückgebracht, der kann also auchmitreden. So ertranken auch die Bootsführer, wurden nicht heilig und werden vermutlich in irgendeiner Chronik „unter ferner liefen“ abgeheftet.

Wer sich gerne in einer Bibliothek aufhält, weiss, dass die Zeit einem Bibliotheksbesucher nichts anhaben kann. Der Junge also, der konnte hinein. Er zog seinen Raumanzug ab (der mich an ein Cover von Jules Verne erinnerte) und stellte das Pony vor den Eingang unter das Vordach. Die jungen Buchbenutzerinnen gingen einfach mit ihm weg, fasziniert von dem jungen Mann und seinem schimmernden Pony. Vermutlich ein Prinz…in Märchenbüchern haben die oft so einen Auftritt.

Gleichzeitig, tief im Bauch von UTOPIA, öffnete ein von uns vergessener Lieblingsbesucher ein Buch und begann zu lesen. Er hätte nicht lesen dürfen, er darf unsere Buchrücken streicheln, unser Seiten geradestreichen, unsere Schutzumschläge richtig einschlagen. Er darf uns ansehen und an uns riechen, er sollte nicht lesen! Er vergass alles, was wir ihm beigebracht hatten, die Lichtnahrung, was wir von ihm wollten…auch er erlebte seine Revolution. Seine Phantasie öffnete Pforten, die wir nicht geöffnet haben wollten…er sass am Ufer des Sees und las. Er vergass seine Pflichten, und indirekt riss er alle Barrikaden ein, er stellte sich Dinge vor, die er unbedingt wieder sehen wollte, erleben wollte, erfühlen und erspüren wollte. Erinnerungen auffrischen, Dinge sehen, die wir nicht kannten, weil er sie nie aufgeschrieben hatte. Das Buch weckte ein Begehren in ihm, dass UTOPIA nicht befriedigen konnte. Er lachte, kicherte und weinte…er wollte nach Hause und schwimmen gehen. Die Sonne kitzelte seine Haut, und kühles Gras strich um seine Knöchel. Blumen rochen, und Bienen summten. In einem Haus, das nur er kannte, wurden Kekse gebacken; sie hatten die Form eines kleinen, knuffligen Drachens und sie rochen herrlich nach Vanille…dort wo es keinen Teig hatte, roch es nach Zartbitterschokoladebröckchen. Die anderen Lieblingsbesucher kamen, angezogen von den Geräuschen. Sie wollten sich den Buchtitel merken…Doch der Vergessene Lieblingsbesucher las laut aus dem sehr dünnen Buch vor. Später erzählten sich die Zuhörer ihre Lieblingsstellen. Es handelte von Möwenschreien und frischen Austern, von Moos im Wald, von lauter Musik in neurotischen Städten. Kurz: Es stellte sich heraus, dass jeder etwas anderes gehört hatte. Die Phantasie der Zuhörer riss die Mauern um UTOPIA endgültig ein. Wir verloren unsere kollektive Macht. Das eine Buch hat alles zerstört, was wir erschaffen hatten und die Menschen gewannen in den Geschichten ihre Freiheit zurück.

Ich überlasse jetzt dem Leser seine Gedanken. Egal ob sie gut oder schlecht sind. Ich möchte zurück in mein Gestell. Ich bin ein Teil des Ganzen.

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